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Zukunft Europas: “Die Welt, für die Europa gebaut wurde, existiert nicht mehr”

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Donald Trump schüttelt die Welt durch – und was macht die Europäische Union? Zwei junge Europaoptimisten erklären, wie man sie aufweckt – jetzt aber wirklich.

Thu Nguyen und Nils Redeker leiten seit Anfang Oktober gemeinsam das Jaques Delors Center an der Hertie School in Berlin, ein Thinktank, der sich mit europäischen Politik- und Wirtschaftsfragen beschäftigt. 

DIE
ZEIT:
Frau Nguyen,
Herr Redeker, US-Präsident Donald Trump hat erfolgreich für einen Frieden in
Gaza gesorgt. Europa hat in diesem Konflikt und seiner Lösung keine große Rolle
gespielt. Was sagt das über die EU und ihr geopolitisches Gewicht?

Thu Nguyen, 35, ist spezialisiert auf institutionelle Reformen und die Rechtsstaatlichkeit in der EU.

Thu Nguyen: Es zeigt erst mal, dass Europa
hier sehr wenig Einfluss hat. Das hat zum einen historische Gründe: Europa war
im Nahen Osten schon immer weniger präsent. Zum anderen liegt es aber auch an
der Kompetenzverteilung innerhalb der EU. In der Außenpolitik haben weiterhin
die Mitgliedstaaten das Sagen, es herrscht das Prinzip der Einstimmigkeit. Die
Kommissionspräsidentin kann nicht einfach agieren, wie etwa in der
Handelspolitik. Noch dazu haben die Mitgliedstaaten sehr unterschiedliche
Ansichten zur Situation in Israel und Gaza.

ZEIT: Steht das Kompetenz-
und Meinungsgerangel nicht symptomatisch für die Machtlosigkeit Europas in der
Welt?

Zukunft Europas: Nils Redeker, 35, ist spezialisiert auf Fragen zur europäischen Wirtschaftspolitik.

Nils Redeker, 35, ist spezialisiert auf Fragen zur europäischen Wirtschaftspolitik.

Nils Redeker: Ein Stück weit sicher. Kennen
Sie das Phänomen der Schlaflähmung? Dabei ist der Teil des Gehirns, der für die
Wahrnehmung zuständig ist, bereits wach, während der Teil, der den Körper
steuert, noch schläft. Man nimmt alles wahr, kann aber nicht reagieren oder
sich bewegen. So wirkt Europa gerade: Es erkennt die Probleme, ist aber noch
nicht wirklich handlungsfähig. 

ZEIT: Na, dann ist Europa ja schon
seit 20 Jahren in einem Zustand der Schlaflähmung.

Redeker:
Vielleicht,
aber die Veränderungen in der jüngsten Zeit waren dramatisch. Die Welt, für die
Europa ursprünglich gebaut wurde, existiert heute nicht mehr. Ein auf Regeln
basierendes weltweites Handelssystem wird nun vor allem von den USA infrage gestellt. Die waren aber in der Vergangenheit der wirtschaftlich und politisch
verlässlichste Partner. Gleichzeitig wird die EU militärisch von Russland
bedroht, technologisch von China.

ZEIT: Aber das erhöht doch nur den
Handlungsdruck.

Redeker:
Auf
jeden Fall. Ich würde auch sagen, dass es Bereiche gibt, in denen wir begonnen
haben, uns auf die neue Welt einzustellen. Schauen Sie einfach, was Europa
bereit ist, für die notwendige Aufrüstung auszugeben, um sich unabhängiger von
den USA zu machen. Aber ja, damit hätten wir schon vor zehn Jahren beginnen müssen.

ZEIT: Warum haben wir es nicht getan?

Nguyen: Wir
haben lange geglaubt, wirtschaftliche Stärke und Einhaltung von internationalen
Regeln würden ausreichen, um in der Welt eine wichtige Rolle zu spielen. Diese
Vorstellung von der Welt hat unter anderem Trump zerstört. Jetzt stellt sich
die Frage, wie wir damit umgehen. Dazu gehört auch, ob wir gemeinsam eine
strategische Handelspolitik und Industriepolitik entwickeln können.

Was vorher unmöglich schien, wurde unter Druck plötzlich möglich.

Thu Nguyen

ZEIT: Und? Können wir?

Redeker: Zumindest sind wir schon aufgewacht, um im Bild der
Schlaflähmung zu bleiben. Es knirscht gerade an allen Enden und Ecken. Die
Frage ist, sind das Zeichen eines Niedergangs oder Wachstumsschmerzen? Ich
setze auf Letzteres und glaube, dass Europa gestärkt aus dieser Krise hervorgehen
kann. Dafür ist es jedoch unerlässlich, mehr Kompetenzen an Brüssel abzugeben.

ZEIT: Was müsste Deutschland konkret
aufgeben, um die EU zu stärken?

Nguyen:
Zuallererst
sollte die Bundesregierung nicht in alte Muster fallen. Einerseits betont
Bundeskanzler Friedrich Merz, wie unverzichtbar die EU sei. Andererseits verfällt
er immer wieder ins klassische Brüssel-Bashing und kritisiert die EU als
Regulierungsmaschine. Das passt nicht zusammen und ist der schwierigen Lage
nicht angemessen.

ZEIT: Aber stimmt es nicht,
dass europäische Regulierungen die Wirtschaft in den vergangenen Jahren eher
gelähmt haben und so zur Wachstumsschwäche beigetragen haben?

Nguyen: Ja,
zum Teil gibt es sicher ein Problem mit zu viel Bürokratie. Aber die
Bundesregierung erweckt den Eindruck, dass man nur ein paar Berichtspflichten
zurücknehmen muss und alles ist gut. Das wird aber nicht reichen.

Redeker: Natürlich ist es erst mal gut, dass die
Bundesregierung ein klares Bekenntnis zur EU abgegeben hat. Jetzt muss sie aber
mehr politisches Kapital investieren. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Die EU
exportiert zehnmal so viel in andere EU-Länder wie in die USA. Wenn der Handel
mit den USA um zehn Prozent sinkt, müsste der Handel innerhalb Europas nur um etwas
mehr als ein Prozent steigen, um das zu kompensieren. Die einfachste Antwort
ist, Europas Binnenmarkt zu stärken und sich von den USA zu emanzipieren.

ZEIT: Dann sagen Sie doch mal drei Punkte, die jetzt
wichtig sind, um die Abhängigkeit von China und den USA zu reduzieren.

Redeker: Erstens
müssen wir den Binnenmarkt vertiefen, etwa durch gegenseitige Anerkennung von
Standards, damit Unternehmen für das gleiche Produkt nicht 27 unterschiedliche Standards
erfüllen müssen. Zweitens brauchen wir eine stärkere Finanzmarktintegration.
Europa sitzt auf 35 Billionen Euro Ersparnissen. Das ist Geld, das wir
eigentlich dringend bräuchten, um innovative Unternehmen in Europa zu
finanzieren. Aber das passiert nicht, stattdessen geht das Geld vorwiegend in
die USA und wird dort investiert. Und drittens müssen wir in strategischen Bereichen
wie Batterietechnologien gemeinsam investieren und die Nachfrage nach europäischer
Produktion gezielt ankurbeln.  

ZEIT: Klingt alles sinnvoll, aber noch mal: Ist die EU agil genug, um auf eine sich so schnell verändernde Welt
adäquat zu reagieren?

Nguyen: Wenn es nötig ist, kann sie
sich bewegen. Nehmen Sie etwa den 800 Milliarden Euro schweren Coronakrisenfonds
“Next Generation EU”. Das ging damals für EU-Verhältnisse sehr schnell und war
ein großer Fortschritt. Zum ersten Mal hat die EU gemeinsam Kredite
aufgenommen. Was vorher unmöglich schien, wurde unter Druck plötzlich möglich.
Die Krise hat die Mitgliedstaaten zur Einigung gezwungen.

ZEIT:
Polemisch
gesagt: Beim Geld ausgeben ist man sich schnell einig, aber grundlegende
Reformen passieren nicht.

Nguyen:
Das
stimmt so nicht ganz. Der Fonds hat auch die Beziehung zwischen Kommission und den
Mitgliedstaaten verändert. Es war eine neue Form von Integration in der
wirtschaftspolitischen Steuerung mit Auswirkungen auch darauf, wie
Rechtsstaatlichkeit durchgesetzt wird. 

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